A F G H A N I S T A N H I L F E MENSCHEN AM WEGRAND Meine erste Begegnung mit Afghanistan war eine Begegnung auf Distanz. Wir, eine kleine Gruppe von Freun- den, hatten uns aufgemacht, das Pamir-Gebirge mit dem Velo zu überqueren. Die ersten zehn Tage auf dem „Pamir Highway”, einer meist holprigen Schotterstrasse, fuhren wir im Süden Tajikistans dem reissenden Grenzfluss Panj entlang – Afghanistan war jenseits des Flusses immer im Blick, aber für uns nie erreichbar. Die Grenze zu Afghanistan war zu, die einzige Brücke, bei Ishkashim, war versperrt. Unser Blick blieb ein Blick von draussen. Es war eine unvergessliche Fahrt, durch eine der am dünnsten besiedelten Gegenden der Welt, entlang der Sechstausender des Pamir, und auf der anderen Seite, über dem Fluss, die imposanten Schneegipfel des Hin- dukush-Gebirges: Afghanistan…! Auf der afghanischen Seite zwischen Bergflanken und Fluss da und dort ein schmaler Streifen Grün, kleine Gehöfte und Siedlun- gen, verbunden nur durch abenteuerliche Trampelp- fade, die oft in fast senkrechte Felswände gehauen sind. Ein Mann zu Fuss treibt seine zwei schwer bep- ackten Maulesel mit dem Holzstock an. Wohin führt ihn wohl seine lange Reise? Welche Fracht tragen die Maulesel, wohin? Neben einem Lehmhaus Kinder, die fröhlich den exotischen Bikern über den Fluss zuwinken. Wie leben sie? Was denken sie, wenn sie uns sehen? Weit oben am kahlen Berghang, auf über 4‘000 Metern, drei Jurten und ein paar weidende Yaks. Wie ganz anders muss das Leben dieser Menschen sein als unseres. Was sind ihre Nöte, ihre Wünsche, ihre Vorstellungen vom Leben? Was wissen sie über unsere Welt und unser Leben, wie denken sie darüber? Wir können sie nicht fragen. Doch die Bilder bleiben unauslöschlich und ebenso der Wunsch, einmal Af- ghanistan zu bereisen, Land und Leute aus der Nähe kennenzulernen. Das war im Sommer 2006. Inzwischen war ich mehrmals in Afghanistan. Nicht als Velotourist natürlich, sondern als Mitglied der Af- ghanistanhilfe auf unserer jährlichen Projektreise. Auf diesen Reisen besuchen wir die Projektstandorte im zentralen Hochland Afghanistans. Wir prüfen dabei, ob zum Beispiel unsere Gesundheitsstation in Mesh noch immer einem Bedürfnis der lokalen Bevölkerung entspricht. Wir besuchen das von uns finanzierte Schulhaus in Nili und sprechen mit LehrerInnen und Schulbehörde über die dringend gewünschten Schul- bänke und Tische für die Schulkinder. Wir besuchen ein abgelegenes Bergdorf im Distrikt Miramor für eine Schafverteilung und wir verbringen einige Tage in unseren Waisenhäusern in Bamyan und Sangh-e- Masha. Die „Wunschliste” wird mit jedem Tag länger, denn es fehlt überall am Nötigsten. Hier, im direkten 6 Kontakt mit den Menschen, lernen wir ihre Nöte und ihre Hoffnungen kennen und verstehen, hier schöpfen wir unsere Motivation für unseren Einsatz. Doch obwohl wir auf unseren Projektreisen „mitten- drin” sind, sehen wir auch da vieles nur von aussen. Immer wieder anhalten, das geht nicht. Der Fahrer muss uns noch bei Tageslicht ans heutige Ziel bringen, die Wege sind lang und beschwerlich, mehr als durch- schnittlich 30 km pro Stunde sind meist nicht mach- bar. Und legen wir einen Zwischenhalt ein, dann meist nur, um den völlig verstaubten Luftfilter des Toyota auszublasen, um uns kurz zu verpflegen oder uns die Beine zu vertreten. Und bald schon heisst es dann wieder: „ok, let’s go!”. So nehmen wir auf unseren Reisen – nebst den vielen Begegnungen und Gesprächen mit Frauen, Männern und Kindern – vieles nur im Vorbeifahren wahr. Es sind Bilder, die sich einprägen, Fragen, die wir nicht stel- len können. Der Junge, der das frisch geschnittene Getreide nach Hause buckelt: wie denkt er über sein Leben… geht er auch zur Schule oder bleibt ihm das verwehrt? Das Mädchen mit dem grünen Kopftuch und dem unergründlichen Blick, das am Wegrand kauert: was hat sie hinter sich… wovon träumt sie? Der Arbeiter, der in der gleissenden Sonne Lehmziegel zum Trock- nen formt: wartet zu Hause eine Familie auf ihn? Reicht sein Taglohn wohl für ihren Lebensunterhalt? Was bleibt, ist unsere Neugier. Der Wunsch, mehr zu erfahren über das Leben dieser Menschen ausserhalb unserer Projekte, und der Wunsch, auch ihnen helfen zu können, ihre bescheidenen Träume zu verwirkli- chen. Nun, wer weiss… vielleicht sehen wir sie wieder – den Bauernjungen, das kauernde Mädchen, den tapferen Arbeiter - auf unserer nächsten Projektreise. Wir hoffen es. Inshallah! Text: Martin Hongler